Weblinks Kongreßbuch Körperpotenziale in der traumaorientierten Psychotherapie 2007
2.9 Manfred Thielen
Körperpsychotherapie – Dialektik zwischen Beziehungs- und Körperarbeit
Seite 244
In der von Stern (1992, S. 61 ff.) beschriebenen frühkindlichen Interaktionen
zwischen primären Bezugspersonen und dem Säugling ist dieser von Beginn an
Subjekt. Bereits im Alter von 2 Monaten (bis 6 Monate) entwickelt er ein Kern-Selbst,
ein erlebnishaftes Selbstempfinden. Es umfasst die körperliche Gegenwart,
das Handeln, den Affekt und die Kontinuität. Der Säugling erlebt, dass er
von der Mutter körperlich getrennt ist, dass jeder sein affektives Erleben
und seine ihm eigene Geschichte hat. Aus körperpsycho-therapeutischer Sicht
ist dabei wesentlich, dass das Kern-Selbst im Körper verankert ist.
Die Säuglinge verfügen über die Fähigkeit zur kreuzmodalen Wahrnehmung,
sie können Sinnesempfindungen aus verschiedenen Modalitäten (sehen, hören,
tasten) miteinander koordinieren und flexibel von einem Sinneskanal zum anderen
umschalten. Die Interaktionsangebote ihrer Bezugspersonen werden von ihnen
amodal und körperbezogen aufgenommen (Dornes, 1993, S. 43). »Sehen und Fühlen:
Kreuzmodale Wahrnehmung funktioniert erstaunlicherweise bereits von Geburt
an. Gibt man 20 Tage alten Kindern einen Schnuller mit Noppen zum Saugen
und zeigt ihnen hinterher die Bilder von zwei Schnullern – einen mit Noppen,
einen ohne -, so blicken sie länger den genoppten Schnuller an. Sie stellen
also anscheinend eine Verbindung her zwischen dem, was sie im Mund gefühlt
haben, und dem, was sie sehen.« (ebda., S. 43)
Wie entwickeln sich in der präverbalen Phase psychische Repräsentanzen beim
Säugling, mit denen Erfahrungen gespeichert werden? Stern bezeichnet die
präverbalen Repräsentationen als »generalisierte Interaktionsrepräsentationen«
(Representations of Interactions that have been Generalized, RIGs).
(Stern, 1992, S. 143) Sie enthalten vielfältige spezifische Erinnerungen,
z.B. den Akt des Stillvorgangs, der Säugling speichert ab, dass und wie die
Mutter ihre Bluse öffnet, wie sie ihn an die Brust legt, den affektiven Zustand
der Mutter, das eigene Empfinden usw.
Der Säugling repräsentiert psychisch generalisierte Interaktionen z.B. den
Stillvorgang, in dem er den Ablauf des Geschehens in Segmente unterteilt
und die Invarianten, das, was immer wieder auftaucht, speichert. Dabei spielen
die körperlichen Erfahrungen und die nonverbalen Signale eine ganz entscheidende
Bedeutung. Die Körpersprache, der Gesichtsausdruck etc. der Mutter hat für
den Säugling emotionalen Signalcharakter (Dornes, 1993, S. 152 ff.)
»RIGs resultieren aus dem unmittelbaren Eindruck mannigfaltiger, realer Erfahrungen,
und sie integrieren die unterschiedlichen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Affekt-Attribute
des Kern-Selbst zu einem Ganzen.« (Stern, 1992, S. 143-144) »...das Selbst,
das handelt, das Selbst, das fühlt, und das Selbst, das den eigenen Körper
und dessen Handlungen auf seine ihm eigene Weise wahrnimmt – sie alle werden
zusammengeführt.« (ebda., 144)
Die körperliche Interaktion ist ein wesentliches Element des Interaktionsprozesses,
z.B. wie die Mutter das Kind anfasst, hält, allgemein, wie sie Körperkontakt
macht.
In der Kommunikation zwischen Säugling und Mutter/Bezugspersonen ist die
»Musik der Worte«, die Art und Weise, wie sich Mutter u. Säugling zueinander
verhalten entscheidend. Babys haben von Anfang an ein Bewusstsein, genau
wie ihr Gegenüber nach dem Motto: »Ich weiß, dass du wahrnimmst, dass ich
etwas weiß.« (Stern, 1997)
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Wenn es in der Psychotherapie in wichtigen Teilen darum geht, neue RIGs
und Mikropraktiken zu bilden, dann gehört auch das Element der Überraschung,
der Provokation, der Verstörung und das der Übung dazu. Wenn Verhaltensmuster
bzw. Interaktionsmuster sich über Jahrzehnte eingeschliffen haben, dann können
sie nur verändert werden, wenn auch neurophysiologisch eine neue synaptische
Bahnung bzw. Verschaltung passiert. Dieses neue Interaktionsmuster braucht
nach meiner Erfahrung und den neuen Erkenntnissen der Neurobiologie (Roth,
Damasio) eine entsprechend hohe emotionale Beteiligung, um tatsächlich Wirkung
beim Klienten zu haben. Auf der neurophysiologischen Ebene kann es durchaus
verstörend (s. Trautmann-Vogt, ebda. S. 64) wirken, d.h. der Klient wird
zu einer neuen experimentellen Erfahrung eingeladen oder u.U. auch provoziert.
Diese Erfahrung wird von der neueren Gehirnforschung untermauert.
Menschen werden meist unbewusst durch Affekte und Emotionen aus den tieferen
Hirnstrukturen, besonders jenen des Stammhirns und des limbischen Systems
und nicht durch ihr Ich gelenkt. Menschliches Erleben ist immer eine sensomotorisch-affektive
Einheit. Umlernen von alten Strukturen erfordert eine ausreichend hohe emotionale
Beteiligung (Roth, 2001).
In der körperpsychotherapeutischen Praxis spielt weiter der Umgang mit dem
aversiven Motivationssystem, das Aggressionen einschließt, eine zentrale
Rolle. Meiner Erfahrung nach ist die Arbeit mit diesem Motivationssystem
am schwersten, da es in der Regel in der Sozialisation des Klienten am meisten
vermieden wurde. Ärger, Wut, Hass, Ekel, Verachtung aber auch Trauer sind
die Gefühle, die am häufigsten verdrängt oder abgespalten werden, innerhalb
dieser Gefühle spielen Ärger, Wut und Hass eine besondere Rolle.
Im Sinne der Bildung neuer RIGs, von neuen Interaktionserfahrungen, spielt
es eine entscheidende Rolle für den erfolgreichen Therapieverlauf, ob der
Therapeut es dem Klienten ermöglicht, neue Interaktionserfahrungen zu machen.
Insofern sind Interaktionsprozesse, die Körperprozesse mit beinhalten, integraler
und produktiver Bestandteil einer Körperpsychotherapie. Am Punkt der Arbeit
mit der Aggression gibt es für mich auch einen deutlichen Dissens zur Selbstpsychologie.
Aggressionen sind häufig beim Klienten so tief verdrängt, dass sie auch provokativer
und konfrontativer Techniken bedürfen, damit er eine Chance hat damit in
Kontakt zu kommen. Nur durch das Vertrauen auf die Selbstregulation des Patienten
können sie bei Patienten mit starken Widerständen nicht freigesetzt werden.
Die Innensicht der Patientin ist grundlegend wichtig für die empathische
Einfühlung, das dialektische Pendant ist aber auch die Außensicht der Therapeutin
bzw. ihre Gegenübertragungsgefühle.